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"Berliner Schule"-Trailer
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"Großstadt-Kolumnen"-Lesung mit Oliver Korittke im "week12end" in Berlin
[Foto: Benjamin Pritzkuleit, Berliner Zeitung]
[foto: torsten goltz]
DIE NACHT DER NÄCHTE
Diese Kolumne beginnt mit einem Fehler. Ein Fehler, der zunächst unscheinbar wirkt, weil er nur aus zwei Buchstaben besteht. Aus einem „J" und einem „A". Nur ein kurzes Wort. Ich habe es letzten Samstag benutzt. In einem Gespräch mit Patrick.
Das Wörtchen „Ja" und ein Gespräch mit Patrick. Beides kann ein Fehler sein.
Am Freitag erhielt ich einen Anruf. Patrick, den ich hier vor einigen Wochen in dem Text „Minderjährige nymphomanische Top-Models" zumindest in Ansätzen portraitiert habe, fragte mich, ob wir am Samstagabend etwas zusammen unternehmen wollen. Da ich weiß, wie Abende mit Patrick im Allgemeinen ablaufen, war ich anfangs ein wenig skeptisch.
Er erzählte mir, dass er sich seit einiger Zeit mit einer Frau namens Marleen traf, die „der absolute Oberhammer" wäre. Am Samstag war er mit Marleen und ihren Freundinnen verabredet. Da ich auch weiß, mit welcher Art Frauen Patrick im Allgemeinen ausgeht, war meine Skepsis noch nicht verflogen. Patrick besitzt allerdings ein Talent. Das Talent der Überredungskunst. Ein Talent, das er einsetzte. Eine halbe Stunde später freute ich mich auf einen kultivierten Abend mit einigen äußerst gebildeten Germanistik-Studendinnen. Mit Frauen, um die es sich zu kämpfen lohnt.
Patrick hatte es geschafft. Ich sagte: „Ja."
Wir verabredeten uns in einer Bar in der Auguststraße, dem „Lining". Einer Bar, die eher zu Patrick passt als zu mir. Was ich allerdings noch nicht wusste, war, dass an diesem Abend zwei Welten aufeinander treffen würden. Zwei Welten, die sich sehr fremd sind. Ich repräsentierte sozusagen die eine Welt. Die Repräsentanten der anderen Welt waren blond, oder um es etwas präziser auszudrücken, stark blondiert. Sie sahen sich sehr ähnlich. Und sie waren zu viert. Meine Welt befand sich also in der Unterzahl. Oder, wenn man so will, in der Defensive.
Sie hießen Marleen, Anne, Anke und Silke. Die Namen Cindy, Mandy, Chantal und Sandy hätten allerdings auch irgendwie gepasst. Als sie dann anfingen zu reden, passten diese sogar besser als ihre wirklichen Namen. Sie waren in Berlin aufgewachsen. In Ostberlin. Genauso wie ich. Das hätte gegebenenfalls ein Ansatz sein können. Gegebenenfalls.
Nachdem wir uns begrüßt hatten, zog sich Patrick erst einmal mit Mandy an die Bar zurück. Ich fühlte mich ein wenig im Stich gelassen. Patrick war ja sozusagen mein Ansprechpartner. In gewisser Weise auch der Moderator zwischen den Welten. Ich betrachtete die Frauen, die sich gerade kichernd Fotos auf ihren Handys ansahen und fühlte mich zurückgelassen. Dann blickte ich mich unauffällig um, in der Hoffnung, niemanden zu sehen, den ich kannte.
Es gibt ja verschiedene Formen des Berlinerns. Ich zum Beispiel benutze häufig die Worte „ick" und auch „dit", spreche ansonsten jedoch ziemlich hochdeutsch. Es gibt jedoch auch aggressivere Varianten. In einer dieser Varianten artikulierten sich auch die Frauen, mit denen ich mich gerade im „Lining" aufhielt. Eine Variante der Bauernschläue. Eine Variante, in der Sätze wie: „Ick hab dir doch jesacht, damit dit nich jeht" vorkommen. Nun gut, so schlimm war es dann doch nicht. Es wäre wohl auch ein wenig unfair, Cindy, Chantal und Sandy einen Sechste-Klasse-Abschluss zu unterstellen.
Cindy stellte im Laufe des Abends fest, dass etwas mit meiner Haut nicht stimmen würde, ich sähe irgendwie krank aus. Krank? Verunsichert berührte ich meine rechte Wange.
„Wann warste denn dit letzte Mal im Solarium?" Solarium? Zum letzten Mal?
Jetzt ist es wohl Zeit für ein Geständnis: Ich gehöre zu einer Randgruppe. Und zwar zu jener Randgruppe von Menschen, die in ihrem Leben noch kein Solarium aufgesucht haben. Ich überlegte, was für ein Bild Cindy nach einem solchen Geständnis von mir haben würde. Cindy, die offensichtlich einen Großteil ihrer Mittagspausen in Sonnenstudios zu verbringen schien.
Als Cindy, Mandy, Chantal und Sandy dann auf der Toilette verschwanden, um sich nachzuschminken, nutzte Patrick die Gelegenheit, um mir etwas überaus Essentielles mitzuteilen: „Letzte Woche hab ich jeden Tag gebumst."
Aha. Mmh. Wie interessant.
Wie reagiert man auf einen solchen Satz? Ich bin mir nicht ganz sicher. Vorsichtshalber antwortete ich nicht. Ich ließ den Satz im Raum stehen und hoffte, dass die Gäste in unserer unmittelbaren Umgebung nichts mitbekommen hatten. Ich muss hinzufügen, dass Patrick das Wort „bumsen" auspricht, als würde es mit einem langen „M" und einem sehr weichen „S" geschrieben. So, wie dieses Wort in deutschen Erotikfilmen der siebziger Jahre ausgesprochen wurde.
Als die Frauen zurückkehrten, zahlten wir und gingen ins Rodeo. Wie Daniel Brühl gehe auch ich gern dorthin. Ich mag den Club, weil er sich in der imposanten Kuppelhalle des ehemaligen Postfuhramtes in der Oranienburger Straße befindet. Eine großartige Kulisse. Demzufolge sind Brühl und ich dort desöfteren anzutreffen. Und nicht nur wir.
Als ich vor einiger Zeit mit Freunden im Rodeo war, lernte ich einen Mann kennen, der ständig davon erzählte, dass er demnächst in München irgendwelche Termine habe, und mir zunächst durch seine ungewöhnliche Frisur auffiel. Moment mal: Frisur? Okay, lassen wir das.
Dieser Mann war Wayne Carpendale. Wayne Carpendale ist der Sohn des Sängers Howard Carpendale. Er ist also mit Liedern aufgewachsen, die „Das Schöne Mädchen Von Seite 1" und „Morgen Früh Wirst Du Geh'n" heißen. Vielleicht hat ihn das geprägt. Zumindest verhielt er sich so.
Bertolt Brecht hat ja die Menschen, auf die er traf, in zwei Gruppen eingeteilt: in die, mit denen er reden, und in die, mit denen er nicht reden würde. Wayne Carpendale, der sicherlich vielen aus Filmen wie „Im Tal der wilden Rosen: Ritt ins Glück" oder der Serie „Sturm der Liebe" (also Produktionen, die zu seiner Frisur passen) ein Begriff sein dürfte, schien es an diesem Abend ähnlich zu gehen wie Bertolt Brecht. Mit dem Unterschied, dass seine Kategorien eher in die Richtung tendierten, mit wem er in dieser Nacht schlafen würde und mit wem nicht. Der Mann ist ja mit Yvonne Catterfeld liiert. Das erstaunte mich dann doch. Nicht, dass er mit der Sängerin zusammen war, eher, dass ein Mensch, der sich so verhielt, überhaupt liiert war.
Ich überlegte kurz, das Gespräch auf Brecht zu bringen. Brecht hatte die Eigenart, jeder Frau, mit der er eine Affäre hatte, ein Kleid zu schenken. Nun, so eigenartig ist das nicht, mag jetzt mancher denken. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Brecht schenkte allen Frauen das gleiche Kleid. Und er legte auch Wert darauf, dass sie es trugen. Er uniformierte sozusagen seine Liebschaften. Er schuf sich gewissermaßen eine Armee. Eine Geschichte, die schon sehr viel über den Menschen Brecht aussagt. Ich erzählte sie Wayne dann doch nicht, obwohl ich ihn als jemanden einschätzte, dem ein solcher Gedanke sicherlich gefallen hätte.
Patrick und ich standen in diesem wunderschönen Kuppelsaal. Er vertraute mir gerade an, dass er bei Mandy-Marleen bisher noch keine zufrieden stellenden Resultate erzielt habe. Er war, wie er es formulierte, noch nicht „zum Vollzug" gekommen.
Moment. Jetzt sah ich auch gewisse Details in der Art, in der die beiden miteinander umgingen, in einem anderen Licht. Details, die ich bisher als Fehlinterpretation abgetan hatte. Mir fallen Situationen dieser Art verhältnismäßig oft auf. Und vielen Frauen dürften sie sicherlich bekannt sein. Oft kann man in Clubs Gespräche zwischen Männern und Frauen beobachten, die auf den ersten Blick ganz normal erscheinen. Wenn man jedoch ein wenig genauer hinsieht, fällt einem auf, dass zum Beispiel der Mann seinen Arm um die Frau gelegt hat, die Frau, noch immer freundlich lächelnd, ihre Arme verdächtig nah an ihrem Körper hält. Dann fällt einem auf, dass mit ihrem Lächeln ebenfalls etwas nicht stimmt. Es ist kein interessiertes Lächeln, eher ein „Wann zieht sich dieser zudringliche Mensch endlich zurück"-Lächeln. Es sind die Reste eines Lächelns. All das sind Zeichen, die den auf sie einredenden Männern nicht aufzufallen scheinen. Und auch Patrick schien sie in dieser Nacht nicht deuten zu können.
Dass seine Äußerung der Aussage widersprach, die er vor einer Stunde gemacht hatte, verdrängte er offensichtlich erfolgreich. Ich sprach ihn auch nicht darauf an.
Die Frauen setzten sich an einer der Tische und begannen Karten zu spielen. In einem Club! Zum zweiten Mal an diesem Abend sah ich mich nach eventuellen Bekannten um, in der Hoffnung, niemanden zu kennen. Nur diesmal tat ich es nicht unauffällig.
Patrick und ich setzten uns nicht dazu. Ich fragte mich zum wiederholten Mal, was ich hier eigentlich machte. Patrick sprach von seiner neuen Freundin: „Richard gefällt sie auch", sagte er, „er hat zwar gesagt, dass es noch besser gehen würde. Aber besser geht es ja schließlich immer." Aus irgendeinem Grund klangen Patricks Sätze wie eine Rechtfertigung.
Als ich einige Tage darauf mit Patricks bestem Freund Richard telefonierte, begriff ich auch, warum. „Der hat mir letztens ganz stolz ein Foto von der Perle geschickt", pöbelte Richard, der sich, um es mal vorsichtig auszudrücken, oft ziemlich affektgesteuert artikuliert. „Die sieht doch Scheiße aus. Wie notgeil kann man denn sein." Nun gut. Ganz so drastisch sah ich es nicht. Mandy sieht gar nicht schlecht aus, obwohl ihrem Gesicht sicherlich eine gewisse Nachhaltigkeit fehlt. Ein Gesicht, das man schnell vergisst.
Dieser so ausgesprochen gelungene Abend wurde in gewisser Hinsicht dokumentiert. Cindy hatte mit ihrem Handy viele Fotos gemacht, die sie einige Tage darauf online stellte. Mit Bildunterschriften. Am Tag zuvor hatte sie das Stelenfeld besucht. Das Holocaust-Mahnmal. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Auch von diesem Besuch fanden sich einige Bilder in Cindys Fotoreihe. Ebenfalls mit Bildunterschriften. Unter ein Bild, das eine Totale des Stelenfeldes zeigt, fand sich als erklärender Text: „Das Judendenkmal."
Oh Scheiße. Cindy!
Allerdings darf man Cindy bei der Wahl dieser Worte sicherlich keinen politischen Hintergrund unterstellen, wohl eher ein gewisses Maß an intellektueller Insuffizienz.
Sie hat auch ein Foto gemacht, auf dem ich ein wenig gedankenverloren zu Boden blicke, und darunter geschrieben: „Ob wir wohl in Michas nächster Geschichte auftauchen?"
Tja, liebe Cindy, das kannst du haben. Ich öffnete mein Schreibprogramm und dachte einige Momente nach. Dann tippte ich die Worte: „Diese Kolumne beginnt mit einem Fehler".
Michael Nast, 1975 in Berlin geboren, war Gründer zweier Plattenlabel und arbeitete in verschiedenen Berliner Werbeagenturen.
Er zog 2000 nach Köln und arbeitete dort als Art Director für eine namhafte Werbeagentur.
2005 kehrte er nach Berlin zurück und schrieb Die Tugenden und die Laster .
2007 gründete er seine eigene Agentur berlinerverhältnisse .
[ LESEPROBE AUS "DIE TUGENDEN UND DIE LASTER ]
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(...) Im Blauen Band bestellte sich Victor ein Englisches Frühstück. Die Kellnerinnen kannte er nicht. Sie grüßten ihn, als wäre er in dem Restaurant jeden Tag zu Gast. Beide waren gutaussehende Frauen, offensichtlich das einzige Auswahlkriterium bei der Einstellung von Arbeitskräften in den Restaurants dieser Gegend. Sie waren Studentinnen. Gut, dass er wusste, was er bestellen würde, sie hätten ihn sowieso nicht beraten können. Im Zweifelsfall hätten sie ihm die teuersten Tagesgerichte empfohlen.
Der Milchkaffee wurde serviert, auf einem kleinem Tablett mit einem Glas Wasser. Die Kellnerin war in jedem Fall fickbar. Er versuchte sich vorzustellen, wie ihr Gesicht aussah, wenn sie erregt war und bedankte sich höflich.
Er war der einzige Gast. Die Kellnerinnen langweilten sich. Als er ein Wasser bestellte, kamen sie ins Gespräch. Sie erzählten ihm, was sie studierten. Er überlegte, ob er sich für einen Hilfsarbeiter vom Tiefbau ausgeben sollte, erzählte ihnen jedoch, er habe Archäologie studiert und arbeite jetzt als Korbflechter, was sie sehr originell fanden. Er wunderte sich nur, dass sie ihm die Geschichte abnahmen, er trug schließlich einen ziemlich teuren Anzug.
Sie waren zu jung, sie hatten noch keinen Blick dafür. Sollten sie die Zeit genießen, bis teure Kleidung zu einem selbstverständlichen Bestandteil ihres Wertesystems avancierte.
Ihre Namen waren Julia und Marie. Schöne Mädchen mit schönen Namen. Sie waren Anfang zwanzig. Julia war ihm sympathisch, Marie sah man es an, wenn sie nachdachte. Beide studierten Betriebswirtschaftslehre, Marie hätte er nicht mal Abitur zugetraut. Eine Klingel ertönte, das Zeichen für die Kellnerinnen, dass das Essen fertig war.
Das Essen war gut, wie nicht anders erwartet. Er bestellte sich ja immer ein Englisches Frühstück, wenn er das Restaurant besuchte. Eine der Kellnerinnen fragte ihn, ob er ein Glas Wein trinken wolle. Er wollte. Sie verschwand und kam kurz darauf mit drei ziemlich vollen Rotweingläsern zurück. Sie stießen an und sahen sich in die Augen. Er konnte also eine von beiden noch an diesem Wochenende haben. Oder beide. Eine Option, die zu erwägen nicht das Schlechteste war. Was waren schon zehn Jahre Altersunterschied. Wenn Victor sechzig war, würde die Differenz wahrscheinlich dreißig oder vierzig Jahre betragen.
Das Restaurant begann sich zu füllen. Es war Mittagszeit, die meisten der Gäste waren gekleidet wie Victor. Journalisten, Werber. Man redete über die Arbeit, am geräuschvollsten die Werber, als wollten sie den anderen Gästen beweisen, dass sie dazugehörten.
Victor rief den Namen der Kellnerin, und bestellte einen Latte Macchiato. Er rief sie absichtlich mit Namen, um den Werbern, die hier mit ziemlicher Sicherheit jeden Tag ihre Mittagspause verbrachten, zu zeigen, dass er bereits nach einem Besuch weiter war als sie. Manche Menschen musste man auf ihre Plätze verweisen.
Julia räumte ab, er bat sie, dem Koch auszurichten, dass es sehr gut geschmeckt habe. Sie bedankte sich und verschwand. Victor ging zur Bar und nahm sich eine der ausliegenden Zeitungen. Er verließ den hohen Raum und setzte sich an einen der Tische vor dem Restaurant. Die Sonne schien, er spürte das angenehme Kribbeln der Wärme auf seiner Haut. Während er in der Zeitung blätterte, genoss er die Mischung aus Verkehrsgeräuschen und Vogelgezwitscher. Manchmal drangen die Stimmen der Werber durch, aber das passte auch irgendwie. Er fühlte sich, als hätte er alle Zeit der Welt.
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TUGENDEN UND LASTER - TEASER TRAILER
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