Virginia Jetzt!
Land unter
Wenn in der Nordsee die Sturmtiden auftreten, die Flut also höher steigt als sonst, dann verschwinden die kleinen Inseln vor der Küste, die Halligen, zu großen Teilen unter Wasser. Das Grünland, auf dem sonst die Tiere weiden, sinkt unter die peitschende, graue See. Nur die Warften, die Erdhügel, die die Menschen dem Meer abgerungen haben, ragen noch aus den Fluten. Darauf stehen die kleinen Gehöfte, in denen jetzt jeder auf sich gestellt ist. Die Bindungen an die Außenwelt sind abgeschnitten, die Anderen verschwunden in einem gischtumtobten Nichts, das keinen Ausweg mehr zulässt. Für diesen Zustand haben die Menschen in Nordfriesland einen Namen gefunden: „Land Unter“.
Das neue Album von Virginia Jetzt! beginnt folgendermaßen: Viertelakkorde auf dem Piano, dazu eine kleine Melodie. Nach vier Takten Einsatz Band, Streicherharmonien sofort mit dabei. Weitere acht Takte später setzt Sänger Nino ein: „Ich lauf Dir zu, dir mitten in Dein Leben, völlig kopflos, als würde es sowas nie wieder geben.“ Dieser Anfang macht es natürlich wirklich einfach, fest daran zu glauben, dass sich zehn kleine Herzenssongs aneinander reihen werden. Eine Disziplin, in der die vier Brandenburger seit der Bandgründung 1999 als kaum schlagbar gelten. Mit den Singles der ersten beiden Alben sind sie im Mainstreamradio gespielt worden. Und bei den coolen Jugendsendern. Über 100.000 verkaufte Platten hat Ihnen das insgesamt eingebracht, genauso wie vier Plätze auf der Couch von Stefan Raab. Da weiß man ja, was man zu erwarten hat. Das neue Album bricht mit dieser Tradition. Es folgen schwermütige 45 Minuten, an deren Ende man so tief in die eigenen Abgründe geführt worden ist, dass man keine Lust hat, jetzt einfach eine andere Platte aufzulegen. Virginia Jetzt! fordern Aufmerksamkeit ein, den Willen, tief im Herzen nachzufragen und eigene Schmerzen wieder zu durchleben. Das Schöne in der Dunkelheit will entdeckt werden.
Auf der kleinen Hallig Süderoog leben im einzigen Haus der Insel nur zwei Menschen: Gudrun und Hermann, ein Ehepaar. Die beiden haben sich vor ein paar Jahren mal einen Fernseher gekauft. Den haben sie dann aber schnell wieder abgeschafft, weil sie nicht mehr genug miteinander geredet haben. Der Briefträger braucht zwei Stunden, um von Pellworm sieben Kilometer durchs Wattenmeer zu laufen. Wenn es das Meer zulässt. Wenn einer von beiden stirbt – was macht dann wohl der andere?
Virginia Jetzt! unterliegen diversen Missverständnissen. Die Band hat natürlich immer wieder Songs geschrieben, die das Hohelied der Liebe singen. „Dreifach schön“ auf dem ersten Album „Wer hat Angst vor Virginia Jetzt!“ war so ein Song. Da standen sie gerade am Anfang ihrer Bandkarriere und dieses ganze Spiel aus Videorotationen, Charts, Tourleben und Gastauftritten bei Alanis Morisette war noch neu und frisch. Sänger Nino, Schlagzeuger Angelo, Gitarrist und Pianist Thomas und Bassist Mathias waren die sympathischen Sunnyboys, in die sich Redakteurinnen von Online Magazinen verknallen. Typen, die auf der Bühne auch mal fünf Minuten quatschen, wenn es der Moment hergibt. Die sind sie heute auch noch. Aber schon auf „Anfänger“, der zweiten LP, haben sich Brüche offenbart. Auf der einen Seite steht da „Ein ganzer Sommer“, ein Radiohit erster Güte, Mitsingwahnsinn bei Konzerten, gutes Wetter, schlechtes Wetter, Liebe. Daneben gab es schon vor zwei Jahren einen Song wie „In der Finsternis“. Getragenes Soloklavier, Thomas Bernhard Zitat. Die erste Single aus der neuen Platte heißt „Bitte bleib nicht, wenn Du gehst“ und reißt wütend das Tempo nach vorne, um dann im Refrain in sich zusammen zu sacken, am Ende des Zorns in Melodiewelten zu kollabieren. Es geht um Verlust, den man wegräumen und wegschaufeln will. Und der immer noch da bleibt.
Die Kraft der Natur bestimmt das Leben auf den Halligen. Eine Sturmflut hat die Hallig Nordstrandischmoor erst entstehen lassen. Sie hat die damalige Insel Strand an sich gerissen und in vier Teile geteilt wieder ausgespuckt. Die Menschen haben sich arrangiert. 500 Hektar maß die Hallig damals. Die Nordsee kommt immer wieder und holt sich mehr Land. 170 Hektar sind heute noch geblieben. Und die Menschen arrangieren sich wieder. Und wieder.
„Für einen, der aufsteht, gibt’s einen, der fällt, nichts in Sicht von einer besseren Welt“ singt Nino und die Tonalität ist jetzt, bei Titel vier, klar vorgegeben. Neu an Virginia Jetzt! ist, dass sie die Welt nicht mehr nur durch privates Erleben erzählen. Der Mauerfall wird auf „Weit weg“ zur Metapher für eine mögliche Beziehung, die aber nie erreichbar ist. „Ich kann nicht wie die anderen“ erzählt von der Entfremdung in einem Umfeld, das immer cooler, lässiger, sexier wirken will als man selbst. „Idioten“ sind das in den Worten von Songschreiber Thomas Dörschel, dem jetzt auch mal der Kragen platzt, wenn es nicht mehr geht. Dörschel sucht das Heil im Schmerz, im bewussten Erzählen von Grenzsituationen des Lebens, in denen nichts mehr den Anlass zur Hoffnung gibt. Ob das privates Erleben reflektiert oder eine Kunstwelt aufbaut? Ich weiß es nicht, eine Wand des Schweigens und Ausweichens umgibt den Mann, in dessen Songs viele nicht weniger als ihr eigenes Leben sehen.
Die Musik dazu baut Spannungsfelder auf, weil sie nicht eindeutig bleibt. Viel Style Council, Northern Soul, Epik hat die klassischen Bandarrangements abgelöst. Die Songs springen aber eben auch mal durch die Gegend, lassen Spielfreude zu, Groove, alles ganz indieunübliche Möglichkeiten. Nach einer Strophe rumspringen landet man wieder bei den Texten und spürt die Ironie in diesem Songwriting. Virginia Jetzt! haben kein drittes Album gemacht, das vergangene Erfolgsformeln aufgreift und reinterpretiert: Die zehn Songs erschüttern das musikalische und inhaltliche Verständnis der Band in den Grundfesten und ergeben so nahezu ein erneutes Debütalbum. Erstaunlich daran ist: Von Produzent Jem, über die Hamburger Gaga Studios bis hin zum Mastering im Düsseldorfer Skyline ist vieles gleich geblieben im Kosmos der Band. Das Neue, Dunkle kommt von Innen. Darum musste die Band kämpfen: Auf die selbst verordnete sechsmonatige Pause folgte ein weiteres halbes Jahr, in dem man mit viel Sprechen und Herantasten wieder ein Bandgefühl formulieren musste, das schließlich in Songs gepackt werden sollte. Harte Arbeit am „Wir“, Reibung und Konflikte inklusive. Am stärksten wird der Sog dieser Stücke dann, wenn Musik und Inhalt wie beim von akustischer Gitarre dominierten Titelstück eine gemeinsame Sprache sprechen: „Wenn man nicht weiß, was man tut und nicht lebt, wie man muss und alles zusammenbricht und wenn man trotz allem glaubt, man war es nicht, das stimmt dann nicht.“ Das neue Album von Virginia Jetzt! heißt „Land Unter“.
Die Halligen stehen gute zehnmal im Jahr unter Wasser. Danach kommt das Grün wieder zum Vorschein, das Leben geht weiter. Das haben sie auf Jordsand auch gedacht. Seit sieben Jahren gibt es die Insel nicht mehr.
Text: Florian Siepert