About Me
Subultur Zyklotron
(C)Exit Literati 2003
Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden. Sein Haupt ist das feinste Gold. Seine Locken sind kraus, schwarz wie die eines Raben. Seine Lippen sind wie Lilien, die von fließender Myrrhe triefen. Seine Finger sind wie goldene Stäbe, voller Türkise. Sein Leib ist wie reines Elfenbein, mit Saphiren geschmückt. Seine Beine sind wie Marmorsäulen, gegründet auf goldenen Füßen. Sein Mund ist süß, und alles an ihm ist lieblich. So ist mein Freund; ja, mein Freund ist so.
(Das Hohelied Salomos)
X erwachte. Er starrte von seiner dünnen ISO200-Schaummatte-Für-Unterwegs an die ²Aluminium-Decke. Die Matte lag auf dem knarzenden Holzboden. X’ Kopf lugte zwischen ihr und der dünnen Decke hervor, als er ruckartig seine Augen aufriss. Er setzte sich plötzlich auf. Er war aus einem seltsamen Traum erwacht. Die Hände hatte er zu beiden Seiten der ISO200 eingekrallt, die Fingernägel kratzten über den Boden. Langsam bekam er den Kopf klar.
In einer Ecke des Raumes, die seiner an der Wand liegenden Matte am nächsten war, stand der TVisionaire, ein vibratorähnlich aussehendes Projektionsgerät aus schwarzem NeoGlas mit intelligentem Innenleben, das einen konstanten Strom von nicht sichtbarem Gas in die Luft blies, um das Bild darauf zu generieren. Kein Fernsehgerät der alten Liga (es gab sie längst nicht mehr, außer in überteuerten Antiquitätenläden) hätte jemals ein so gestochen scharfes Bild hinbekommen. Es war nicht nur gestochen scharf, es war real-räumlich und integrierte sich in den Raum, in dem es realisiert wurde – "Verwendung an öffentlichen Plätzen streng verboten! Bitte bedenken sie die raumverzerrenden Auswirkungen, welche an öffentlichen freien Plätzen nicht abzusehen sind. Danke und viel Vergnügen mit ihrem maßgeschneiderten Programm. Ihre MedEx-TVisionaire-Crew."
Selbstverständlich hatten es immer wieder irgendwelche durchgeknallten Kids auf Spaßentzug versucht und geschafft, diese TVibratoren, wie sie umgangssprachlich hießen, am ASE (AllSeeingEye) vorbei an öffentliche Plätze zu schmuggeln, die Dinger zu starten, und fasziniert und entsetzt zuzuschauen, wie das Raumgefüge im Freien aus der Ordnung geriet, weil der TVibrator sich dem Raum um sich herum annahm und dies nur in geschlossenen Räumen per Rechenleistung vollbracht werden konnte. Sollten Passanten ohne ihr Wissen zu nahe an eine dieser öffentlichen Vorführungen geraten, war ihre bisherige 'Form' damit verwirkt und die Kids hatten einen Heidenspaß, sich bei diesem schweren Verbrechen nicht erwischen zu lassen, dessen zahlreiche Auswirkungen in Erholungslagern für TVisionaire-Deformationen zu besichtigen wären - dürfte man sie denn ohne staatlichen P3-Ausweis betreten.
„Guten Morgen, X!“ grüßte der Vibrator freundlich und mit dieser spezifisch erotischen Note, die nur die intelligenten Programme von TVibratoren erreichten.
X wurde sich erstmals wieder bewusst, an welchem Ort er sich gerade physisch befand. Er schüttelte Tagträume von irgendwelchen öffentlichen Screenings und Anstalten ab und sah sich in dem kleinen Zimmer um. Das Programm, das immer noch lief, zeigte einen Transvestiten in einer schwarzen Robe, der auf das nicht sichtbare Gas generiert wurde. Statt eines Kreuzes hatte er das Logo des Senders, der diese Sermone ausstrahlte, an einer prallen goldenen Kette hängen: X377-5. Aufgespritzte Lippen, permanent rot, lasen aus einer holographischen Bibel. Mit lüsterner Stimme hauchte der Priester in das Zimmer von X: „Wo hat sich dein Freund hingewandt? So wollen wir ihn mit dir suchen. Mein Freund ist hinabgegangen in seinen Garten, zu den Balsambeeten, daß er weide in den Gärten und Lilien pflücke. Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Lilien weidet.“ X nahm die Hände von der ISO200 und hielt sich den Kopf von beiden Seiten. „Was für eine Scheiße!“, stöhnte er. Der Priester mit den roten Lippen sah ihn vorwurfsvoll an und zischte ein „Na, na, na...“
„TVisionaire: off!“, befahl X seinem Vibrator. Im gleichen Moment war der Transvestit verschwunden, nicht ohne ihn noch einmal besonders vorwurfsvoll anzuschauen.
„X, ich habe deine Auswertung für heute und diese Woche da. Möchtest du sie hören?“ Der TVibrator wartete nicht ab mit der Antwort. „Du hast in dieser Woche 67 Stunden Fernsehprogramm empfangen“ (es war Donnerstag morgen), „und davon entfallen 40 Stunden auf X003-9’s NeoHongkong Heute. 2,7 Stunden X377-5’s Verbreitung Der Neuen Sittlichkeit mit Petey. 0.3 Stunden X423-3’s HardcoreXXXDreams. 12 Stunden K.I. Informationen. 12 Stunden New Scientist New Opp. Beides auf X573-1. Wie soll ich deine auslaufende Woche gestalten, X?“
Langsam stand er auf schwankte durch das Zimmer. Er stolperte an seinem kleinen, fest installierten Tisch aus ²Aluminium vorbei. An der Wand darüber hing ein ²Aluminium-Regal, auf dem seine KI- und NetWorld-Einheit installiert waren; und auch seine Speichereinheiten lagen, säuberlich aufgereiht, auf dem Regal. Putzmunter schwammen sie in ihrer neongrün oszillierenden Flüssigkeit und warteten begierig darauf, etwas in Licht umgesetzte Information auf die Netzhaut, aus der sie ausschließlich bestanden, gebrannt zu bekommen, um diese bei Bedarf wieder zurückzuwerfen. X rieb sich mit dem Handrücken über die verklebten Augen. Lichtspiele auf seinem Gesicht tanzten das nach, was draußen von den Lichtern der Floating-Adverts, der FA’s, durch das Fenster schimmerte. Eine Sirene erklang und ließ das FA noch intensiver seine Werbebotschaft abstrahlen. X schloss kurz die Augen. In seinen Shorts tapste er durch sein Zimmer und hörte nur das leise Summen vom TVibrator, der noch auf eine Antwort wartete. X kratzte sich am Arsch und öffnete den Kühlschrank.
„Hallo, wir haben Donnerstag, es ist 02.26.03.01.“ So spät war es schon? Er hatte definitiv zu lange geschlafen.
„Was kann ich für dich tun, X?“
„Milch, Liebes.“
„X, du hast nicht eingekauft, obwohl ich dich ermahnt habe. Milch ist teuer heutzutage, kaum zu kriegen. Deine ist gestern abgelaufen. Ich empfehle dir trotz neuer Standards eine neue zu kaufen. Soll ich sie für dich ordern, X?“
„Nein, zu teuer!“
„OK, X. Was kann ich sonst für dich tun?“
„Scheisse, Liebes, ich will einfach nur etwas trinken!“
„Du hast noch Bier, X, möchtest du Bier?“
„Ja, dann eben Bier.“
„Greif einfach zu.“
- Der TVibrator meldete sich zurück; „X, welche Programmkomponenten möchtest du denn nun haben für diese Woche?"
***
to be continued/Fortsetzung folgt