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"Warum kannst du nichts sehen?", fragte Tin Win ihn eines Tages.
"Wer behauptet, dass ich nichts sehen kann?"
"Su Kyi. Sie sagt, du bist blind."
"Ich? Blind? Ich habe vor vielen Jahren mein Augenlicht verloren, das stimmt. Aber ich bin deshalb nicht blind. Ich sehe nur anders." Nach einer kurzen Pause fragte er: "Und du? Bist du blind?"
Tin Win überlegte. "Ich kann hell und dunkel unterscheiden, mehr nicht."
"Hast du keine Nase zum Riechen?"
"Doch."
"Hände zum Tasten?"
"Sicher."
"Keine Ohren zum Hören?"
"Natürlich."
"Was braust du sonst?", fragte U May. "Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar." Ein langes Schweigen, dann fuhr er fort. "Unsere Sinnesorgane lieben es, uns in die Irre zu führen, und die Augen sind dabei am trügerischsten. Sie verleiten uns, ihen zu sehr zu vertrauen. Wir glauben, unsere Umwelt zu sehen, und es ist doch nur die Oberfläche, die wir wahrnehmen. Wir müssen lernen, das Wesen der Dinge, ihre Substanz, zu erfassen, und dabei sind die Augen eher hinderlich. Sie lenken uns ab, wir lassen uns gerne blenden. Wer sich zu sehr auf seine Augen verlässt, vernachlässigt seine anderen Sinne, und ich meine nicht nur die Ohren oder die Nase. Ich spreche von jenem Organ, das in uns wohnt und für das wir keinen Namen haben. Nennen wir es den Kompass unseres Herzens."
Er reichte ihm die Hände, und Tin Win war überrascht wie warm sie waren.
"Du musst lernen, dich darauf zu besinnen", fuhr U May fort. "Wer ohne Augen lebt, muss wach sein. Das klingt einfacher, als es ist. Er muss jede Bewegung und jeden Atemzug spüren. Sobald ich unachtsam werde oder mich ablenken lasse, führen mich meine Sinnesorgane in die Irre, sie spielen mir Streiche. Das Problem sind nicht die Augen und die Ohren, Tin Win. Wut macht blind und taub. Angst macht blind und taub. Neid und Misstrauen. Die Welt schrumpft, sie gerät aus den Fugen, wenn du wütend bist oder Angst hast."
"Wovor hast du Angst?", frage U May plötzlich.
"Warum glaubst du, dass ich Angst habe?"
"Deine Stimme."
"Tin Win hatte gehofft, sein Zustand wäre U May verborgen geblieben.
"Ich weiss es nicht", antwortete Tin Win leise. "Vor der Stille der Nacht. Vor den Stimmen des TAges. Vor dem fetten Käfer, der durch meine Träume krieht und an mir nagt, bis ich aufwache. Vor Baumstümpfen, auf denen ich sitze und von den ich falle, ohne je aufzuschlagen. Und vor der Angst. Manchmal habe ich einfach nur Angst vor der Angst und kann micht dagegen nicht wehren. Sie ist stärker als ich."
U May strich ihm mit beiden Händen über die Wangen.
"Jeder Mensch, jede Kreatur hat Angst. Sie umgibt uns, wie die Fliegen den Misthaufen des Ochsen. Tiere schlägt sie in die Flucht, sie reissen aus und rennen oder fliegen oder schwimmen, bis sie sich in Sicherheit wähnen oder vor Erschöpfung tot umfallen. Wir Menschen sind nicht wirklich klüger. Wir ahnen, dass es auf der Welt keinen Ort gibt, wo wir uns vor der Angst verstecken können, und trotzdem versuchen wir es. Wir streben nach Reichtum und Macht. Wir geben uns der Illuision hin, stärker zu sein als die Angst. Wir versuchen zu herrschen. Über unsere Kinder und unsere Frauen, über unsere Nachbarn und Freunde. Herrschsucht und Angst haben etwas gemein: Sie kennen keine Grenzen. Aber mit der Macht und dem Reichtum ist es wie mit dem Opium, das ich in meiner Jugend mehr als einmal probierte. Beide halten ihr Versprechen nicht. Das Opium brachte mir nicht das ewige Glück, es verlangte nur nach mehr. Geld und Macht besiegen die Angst nicht. Es gibt nur eine Kraft, die stärker ist als die Angst. Die Liebe."Aus dem Buch, "Das Herzenhören"